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Hämophilie und Hemmkörper - Ein Überblick
Rottenburg, den 04. April 2011

Hämophilie und Hemmkörper. Ein Überblick

von W. Effenberger & E. Schleithoff

1. Hemmkörper bei Hämophilie A und B
Hemmkörper sind Antikörper, die vom Immunsystem gebildet werden und die sich sowohl gegen substiturierten Faktor VIII oder IX richten, als auch gegen körpereigenen Gerinnungsfaktor, falls dieser vorhanden ist. Sie neutralisieren die Faktor VIII / IX Moleküle indem sie sich mit ihnen verbinden und nehmen ihnen ihre Gerinnungsaktivität. Das Gerinnungssystem wird auf diese Weise blockiert und das Blut gerinnt nicht. Der Patient hat damit trotz Substitution das Krankheitsbild einer schweren, unbehandelten Hämophilie. Die Behandlungsmöglichkeiten im Falle einer Blutung sind unzureichend.

2. Behandlungsmöglichkeiten
Die Hemmkörper-Bildung ist heute eine der schwerwiegendsten Komplikationen in der Hämophiliebehandlung. Therapieformen zur Vermeidung dieser Komplikation existieren bisher nur in der Theorie.
Zur Behandlung einer Hemmkörper-Hämophilie gibt es verschiedene Vorgehensweisen. In Deutschland hat sich das von Dr. Brackmann entwickelte Therapiekonzept der "Induzierten Immuntoleranz-Entwicklung" durchgesetzt, da es die höchsten Erfolgsraten hat und sehr arm an Nebenwirkungen ist. Bei diesem Verfahren wird der Hemm- körper beseitigt, indem dem Körper zweimal täglich Faktor VIII / IX in hoher Dosierung zugeführt wird. Die Behandlung dauert allerdings unter Umständen sehr lange, sie verursacht immense Kosten und ist psychisch und physisch belastend.

3. Erkrankungsrisiko
Zur Hemmkörperbildung kommt es fas nur in der Anfangsphase einer Substitutionsbehandlung. Mit jeder Substitution wird die Wahr- scheinlichkeit, daß noch ein Hemmkörper auftreten wird, geringer. Nach etwa 100 Injektionen von Gerinnungskonzentrat kann man davon ausgehen, daß keine Gefahr mehr besteht.
Das Hemmkörperrisiko eines Patienten ist abhängig von der Art und der Schwere seiner Hämophilie. am häufigsten betroffen sind Patienten mit schwerer Hämophilie A. Von ihnen entwickeln etwa 20 - 30 % einen Hemmkörper. Patienten mit mittelschwerer Hämophilie A sind zu etwa 5 %, Patienten mit schwerer Hämophilie B zu etwa 1 - 2 % betroffen. Bei allen anderen Hämophilie-Typen und -Formen ist das Auftreten eines Hemmkörpers eine extreme Seltenheit. In Familien, in denen bereits ein Hemmkörper aufgetreten ist, ist das Risiko erhöht.
Im Rahmen der genetischen Forschung der letzten Jahre wurde entdeckt, dass die Art des genetischen Fehlers für die Hemmkörperbildung eine grosse Rolle spielt: je schwerer der Fehler, desto höher ist das Risiko. Durch die heute mögliche Analyse des Genfehlers läßt sich daher das Hemmkörperrisiko noch präziser bestimmen.

4. Aufklärung über das Hemmkörperrisiko
Da Eltern durch die Hämophiliediagnose ihres Kindes zunächst gewöhnlich sehr erschüttert und geängstigt sind, ist es ein wichtiges Ziel der ersten Aufklärungsgespräch, sie zu ermutigen und ihnen zu vermitteln, daß die Erkrankung durch die Behandlung gut zu beherrschen ist.
Gerade die gute Behandelbarkeit der Hämophilie wird durch die Hemm- körperentwicklung aber in Frage gestellt. Die Aufklärung über das bestehende Hemmkörperrisiko kann Eltern daher - kaum daß sie eine gewisse Zuversicht gewonnen haben - erneut erheblich beunruhigen. Dennoch wird die Problematik im Bonner Hämophilie-Zentrum bereits zu Beginn der Behandlung erwähnt und bei Patienten, deren Risiko aufgrund von Hämophilietyp, Schweregrad oder familiärer Häufung hoch ist, auch ausführlich erläutert. Dies erscheint uns in Hinblick auf die hohe Inzidenz unverzichtbar. Unvorbereitet würden die Eltern durch Komplikationen weit härter getroffen und ihr Vertrauen in Arzt und Behandlung köönte Schaden nehmen. Es ist dabei aber wichtig, zugleich die Grundzüge der Hemmkörper-Therapie zu erläutern und darzustellen, daß auch diese Behandlungskomplikation beherrsch- und behandelbar ist.

5. Diagnose des Hemmkörpers und Beginn der Behandlung
Mit der Diagnose eines Hemmkörpers beginnt ein äußerst schwieriger Behandlungsabschnitt in der Hämophiliebehandlung: die Hemmkörper- therapie durch "induzierte Immuntoleranz". Das bedeutet konkret: Es muß über lange Zeit hinweg zweimal täglich hodosiert Faktor VIII / IX injiziert werden (zumindest bei hochtitrigen Hemmkörpern), wobei es im Blutungsfalle sogar nötig werden kann, das Substitutionsintervall auf 6-8 Sunden zu verkürzen. Stationäre Behandlungen lassen sich dann nicht immer vermeiden. Das Faktorenkonzentrat muß absolut regelmäßig verabreicht werden, dajede Unregelmäßigkeit einen Rück- schritt in der Behandlung verursachen und den Erfolg gefährden kann. Auch unter äußerst erschwerten Bedingungen, beispielsweise im Krank- heitsfall, unter äußerster psychischer Belastung, ja selbst nach zahllosen Fehlversuchen bei der Punktion darf nicht auf die Substitution verzichtet werden. Hierin liegt eine besondere Härte. Hinzu kommt, daß Hemmkörperbehandlungen nicht zu 100 % erfolgreich abgeschlossen werden können. Je nach Qualität der Therapieführung muß in 10 - 20 % aller Behandlungen mit einem Therapieabbruch gerechnet werden, zumeist wegen mangelndem Erfolg. Ob hierbei Unregelmäßigkeiten bei der Substitution eine Rolle gespielt haben, läßt sich nicht immer genau klären.
Die Hemmkörperbehandlung verursacht außerordentliche Belastungen und sie stellt hohe Anforderungen an die Mitarbeit, Disziplin und Zuver- lässigkeit aller Beteiligten. Nicht selten bringt si sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Es ist wichtig, dies nicht zu verschweigen und die Betroffenen klar und ausführlich darauf vorzubereiten. Nur so können Behandlungsfehler oder gar Abbrüche, die den Erfolg der Behandlung langfristig zunichte machen können, vermieden und psychischer Über- belastung vorgebeugt werden. Da die Patienten selbst bei Auftreten des Hemmköpers fast immer jünger als 3 Jahre sind, richtet sich die Informationen an die Eltern. Ganz kleine Kinder gewinnen Sicherheit und Halt ausschließlich durch eine liebevolle aber auch klare und überzeugte Haltung ihrer Bezugspersonen. Ältere Kinder sollten selbst- verständlich altersentsprechend in die Aufklärung einbezogen werden. Gleiches gilt auch für Geschwister, die durch die Hemmkörpertherapie, wie auch schon durch die Hämophilie, immer erheblich mitbelastet werden.

Zentrale Belastungen in der ersten Zeit
Druch Hemmkörper und Hemmkörperbehandlung ergibt sich für die Betroffenen nicht so sehr eine qualitativ völlig neue Situation, vielmehr werden schon vorhandene Ängste, Probleme und Belastungen um ein Vielfaches verschäft.
Die Behandlung erfordert of einen so hohen Zeitaufwand, daß sie den Tagesablauf völlig bestimmt und die normale Lebensgestaltung deutlich beeinträchtigt wird. Das gilt insbesondere dann, wenn die Eltern noch nicht selber spritzen und für jede Substitution ein Arzt aufgesucht werden muß. Wenn die Venensituation des Kindes es zuläßt und die Eltern emotional dazu bereit sind, ist es eine große Entlastung, mit der Heimselbstbehandlung zu beginnen.

Die Substitution selbst, bei Kleinkindern aufgrund von Venenver- hältnissen und mangelnder Kooperation oft ohnehin schwierig, wird durch die hohe Injektionsfrequenz erheblich kompliziert. Kind und Eltern haben zwischen den einzelnen Behandlungen kaum Zeit, sich von den Belastungen der Prozedur zu erholen. Oft halten auch die Venen den Anforderungen nicht stand. Leicht kann es dazu kommen, daß sich schlechte Venenverhältnisse, Angst und/oder Widerstand des Kindes, Verunsicherung und Nervosität der Eltern sowie Fehlversuche bei den Punktionen in einem negativen Teufelskreislauf gegenseitig verstärten. In dieser Situation bietet ein Port oft eine Lösungsmöglichkeit - manch- mal sogar die einzige. In Hinblick auf die hohe Injektionsfrequenz ist es noch wichtiger als bei der "normalen" Hämophilie, hier beide Eltern ein- zubeziehen und sie zu einer gutren Kooperation anzuleiten. Beide benötigen eben den rein technischen Hilfen auch Unterstützung dabei, das Schmerz- und Angsterleben ihres Kindes zu bewältigen und ange- messen damit umzugehen.

Zumindest zu Beginn der Hemmkörperbehandlung entspricht die Gerinnungsfähigkeit des Blutes zwischen den Substitutionen der einer unbehandelten schweren Hämophilie. Die Patientensind also zwischen- zeitlich so blutungsgefährdet, daß eine ständige Beaufsichtigung und verstärkter Schutz erforderlich sind. Für die Eltern ist die zu Beginn der Hämophiliebehandlung in Aussicht gestellte Normalität im Umgang mit ihren Kind nun wieder in Frage gestellt. Sie stehen vor der kaum lösbaren Aufgabe, hämophilietypische Verhaltensweisen wie Überbe- hütung und Einschränkung der kindlichen Sozialkontakte zu vermeiden ohne das erhöhte Schutzbedürfnis des Kindes zu vernachlässigen.

Durch Besuche beim Arzt und im Hämophiliezentrum, evtl. auch durch Aufgabe oder Einschränkung der Berufstätigkeit entstehen finanzielle Belastungen. Hier ist es hilfreich, sich über finanzielle und soziale Hilfs- möglichkeiten beraten zu lassen.

Mit der Verschäfung fast aller hämophilietypischen Schwierigkeiten wächst sicherlich auch die Gefahr weiterer bekannter Folgeprobleme; Geschwisterkinder fühlen sich (berechtigterweise) aufgrund der Inanspruchnahme der elterlichen Aufmerksamkeit durch das erkrankte Kind benachteitligt, die sozialen Kontakte und Kontaktchancen der Familie nehmen ab, die Mütter fühlen sich schuldig und werden leider tatsächlich auch nicht selten offen oder insgeheim beschuldigt.

Die genannten Probleme können wohl nicht völlig vermieden, aber in ihrer Intensität verringert werden. Hierbei ist es von entscheidender Bedeutung, daß das Kontrollerlerben der Eltern und - je nach Alter - auch des Kindes gestärkt wird. Nur wenn die Betroffenen das Gefühl haben, handlungsfähig zu bleiben, wird es ihnen gelingen, Überängst- lichkeit und extremes (Mit)leiden einerseits und Ausblenden der realen Gefährdungen sowie Leugnen der Belastungen andererseits zu vermeiden...

6. Probleme im weiteren Behandlungsverlauf
Abängig vom Verlauf der Behandlung stellt sich unterschiedlich schnell raltive "Normalität" im Umgang mit der Situation her. Die inividuellen Bewältigungsstrategien stabilisieren sich und evtl. vorhandene Fehlent- wichlungen, wie z.B. durch Ängstlichkeit, Sorge und Schuldgefühle gespeiste Überhütungstendenzen oder auch die Verharmlosung der Erkrankung und Ausblendung der realen Gefahren, lassen sich schwerer koorigieren. Das sich nun langsam einstellde Gefühl der Sicherheit ist allerdings labil und wird durch oft geringfügige äußere Anlässe wieder gestört.

Große Anspannung verursachen die regelmäßigen Gerinnungs- kontrollen. Es wird ihnen mit Hoffnung, aber auch Angst entgegenge- sehen. Während Verbesserungen der Ergebnisse die Motivation, die Behandlung fortzusetzen, stärken, fürhen Stagnation und Rückschläge oft zu Gefühlen von Ermüdung und lähmender Kraftlosigkeit. Behandlungsphasen, in denen sich der Hemmkörper kaum bewegt, müssen als äußerst schwierig angesehen werden. Beim geringsten Anzeichen von Motivationsproblemen, sollten die Patienten darauf ange- sprochen und Hilfestellung zur Überwindung engeboten werden..

Bei einem Abbruch der Therapie, ganz gleich, welche Gründe dazu geführt haben, stellen die Betroffenen natürlich vor allem die Frage, wie ein unbeschadetes Weiterleben gesichert werden kann. Neben der Reduktion der Faktor VIII- oder IX-Substitution kann eine der Prophylaxe bei Hämophilien ähnliche Behandlung mit regelmäßiger Gabe von Feiba aufrecht erhalten werden. Die damit zu erzielende Gerinnungssituation stellt zwar keinen adäquaten aber einen akzeptablen Ersatz für die bisherige Behandlung dar. Weiterführende heilende Therapien sind derzeit noch nicht verfügbar.

7. Psychische Folgen der Hemmkörpertherapie
Die meisten Eltern machen sich Sorgen, ob ihr Kind die enormen Strapazen einer Hemmkörpertherapie seelisch verkraftet.
Obwohl es zu dieser Fragestellung keine systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, kann man aufgrund umfassender Beobachtungen doch sagen, daß Patienten, die eine Hemmkörpertherapie erfolgreich abgeschlossen haben, nicht auffallend häufiger gravierende psychische Probleme haben als ander Hämophile. Auch das Verhältnis zur eigenen Behinderung scheint sich durch eine Hemmkörpertherapie nicht zu verschlechtern.
Natürlich können "Kritische Lebensereignisse", wie z.B. eine Hemm- körpertherapie, durchaus emotionale Probleme bedingen. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen das. Sie können im Einzelfall aber ebensogut als Herausforderung erlebt werden und einen Reifeprozeß auslösen. Die "objetiven Belastungsfaktoren" beeinflussen die seelische Stabilität erst dann negativ, wenn sie von entsprechenden Gefühlen extremer jubjetiver Belastung und Ohnmacht begleitet werden. Man kann vermuten, daß der erfolgreiche Abschluß einer Hemmkörper- behandlung bei den Patienten das Gefühl, die Hämophilie kontrollieren zu können, stärkt und damit langfristig ihr subjektives Gefühl von Belastung verringert. Ob eine solch optimistische Beurteilung auch bei Patienten mit erfolglos abgebrochener Therapie zulässig ist, muß aller- dings bezweifelt werden.

Während schwerwiegende seelische Dauerschäden also kaum zu befürchten sind, muß man mit vorübergehenden psychischen Beeinträchtigungen und Belastungsreaktionen durchaus rechnen.
Das Kind erlebt während der Hemmkörperbehandlung erheblichen zusätzlichen Stress, vor allem durch die zweimal täglichen Injektionen, aber auch durch die erhöhte Anspannung der Eltern (insbesondere beim Spritzen , aber auch im normalen Tagesablauf). Infogedessen sind erhöhte Unruhe, Konzentrations- und Steuerungsprobleme, evtl. auch Aggressivität bei Hemmkörperkinder nicht ganz ungewöhnlich. Gemildert werden kann dieser Stress nur dadurch, daß Eltern und medizinische Helfer möglichst ruhig und gelassen bleiben und das Kind erlebt, daß die täglichen Punktionen schnell und komplikationslos vorübergehen. Erklärungen und Apelle an die Vernunft sind dagegen insbesondere bei sehr kleinen Kindern ehrer wirkungslos und verringern die Anspannung und die Erwartungsangst kaum.
Bei älteren Kindern und Jugendlichen, die nicht mehr vorwiedend im Augenblich leben sondern schon eine größere Zeitperspektive haben, haben wir gelegentlich auch depressive Stimmungsbeeinträchtigungen beobachtet. Sie treten typischerweise in solchen Therapiephasen auf, in denen kein Fortschritt zu erkennen ist und werden vermutlich durch intensive Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht ausgelöst.

Auch für Eltern sind solche Phasen besonders schwer zu ertragen.
Im Einzelfall kann man Spuren der enormen Belastungen auch noch nach Jahren finden. Vor allem traumatische Erlebnisse beim Spritzen können gelegentlich recht lange andauernde Nachwirkungen verursachen. So reagiert beispielsweise ein Kind, das bei den Injektionen auf extreme und als gewaltsam erlebte Weise festgehalten wurde, auch später noch äußerst empfindlich auf jede Art von Bewegungseinschränkung und ließ sich sogar kaum umarmen. Ein anderes Kind war später nicht mehr dazu zu bewegen die Venen zu benutzen, in die es während seiner Säuglingszeit immer gespritzt worden war, obwohl es an die schlimmen Erlebnisse keinerlei Erinnerung mehr hatte.

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