Diese Arbeit wurde als Klausurarbeit eines Gymnasiums im Fach Biologie der Klasse 12/2 im Schuljahr 1996/1997 angefertigt und wurde mit der Note 2+ bewertet.
Inhaltsübersicht
1. Einleitung
1.1 Abgrenzung des Themas und persönlicher Bezug
1.2 Was ist Hämophilie ?
2. Allgemeine Vererbung und Behandlung
von Hämophilie B
2.1 Vererbung von Hämophilie B
2.2 Ziele der Behandlung
2.3 Substitutionsbehandlung
2.3.1 Behandlung im Kindes- und Jugendalter
2.3.2 Behandlung im Erwachsenenalter
2.3.3 Behandlung von Konduktorinnen
2.4 Mögliche Nebenwirkungen und Risiken der Substitutionsbehandlung
3. Vererbung und Behandlung von Hämophilie B am Beispiel
des Hämophilen Philipp
3.1 Entstehung und Vererbung - von der sporadischen zur familiären
Hämophilie
3.2 Erkennung und Erstbehandlung der Hämophilie B bei Philipp
3.3 Ambulante Substitutionsbehandlung
3.4 Heimselbstbehandlung
3.5 Gefahr durch die Behandlung
4. Zukunftsaussichten
4.1 Vererbungsmöglichkeiten der Hämophilie bei Philipp
4.2 Neue Behandlungs- und Heilungsmöglichkeiten
4.2.1 Gentechnologisch hergestellter Faktor IX
4.2.2 Lebertransplantationen
4.2.3 Gentherapie
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Abgrenzung des Themas und persönlicher
Bezug
Da die Hämophilie viele Themen bietet, habe ich mir zwei zur Bearbeitung
herausgesucht: Vererbung und Behandlung. Um die Themen noch konkreter darstellen
zu können, werde ich mich bei der Vererbung und Behandlung nur auf die
Hämophilie B beziehen und dieses sowohl allgemein als auch an einer speziellen
Person darstellen.
Da es in unserer Verwandtschaft einen Hämophilen gibt, bin ich mit dem
Thema vertraut und habe die Möglichkeit, an einer konkreten, mir bekannten
Person die Vererbung und Behandlung der Hämophilie zu verdeutlichen.
1.2 Was ist Hämophilie ?
Hämophilie - was ist das eigentlich ? Von vielen Leuten hört man
immer noch, ein Hämophiler sei jemand, der verblutet, wenn er sich verletzt.
Doch das Verbluten eines Hämophilen ist heutzutage in Deutschland nahezu
ausgeschlossen. In Osteuropa und der Dritten Welt ist die Möglichkeit des
Verblutens oder schwerwiegender Folgeschäden gegeben, weil die Krankheit
oft gar nicht erkannt wird; wenn doch, dann kann sie nicht oder nur unzureichend
behandelt werden, da die Kosten der Hämophiliebehandlung sehr hoch sind.
Ein Monat Dauerbehandlung ohne zusätzliche Blutungsereignisse kostet bei
einem 10-jährigen Jungen ca. 7200,- DM.
Hämophilie, auch unter dem Namen Bluterkrankheit bekannt, ist eine Erbkrankheit,
bei der einer der Gerinnungsfaktoren fehlt oder nicht in ausreichender Konzentration
vorhanden ist. Man unterscheidet Hämophilie A (Mangel an Faktor VIII) und
Hämophilie B (Mangel an Faktor IX). Ca 85% der Hämophilen haben Hämophilie
A und ca. 15% Hämophilie B. Die Unterteilung erfolgt je nach Schweregrad
der Restaktivität (RA) in schwere Hämophilie (unter 1% RA), mittelschwere
Hämophilie (1-5% RA), leichte Hämophilie (5-15% RA) und Subhämophilie
(15-35% RA). Ein gesunder Mensch hat 100% Blutgerinnungsfaktorenaktivität,
aber schon mehr als 3% reichen aus, um vor alltagsbedingten Blutungen zu schützen.
Bei der Hämophilie sind aufgrund der Vererbung ( siehe 2.1 ) fast ausschliesslich
männliche Personen betroffen, in Deutschland etwa 7000.
(nach: Lit.1,
S. 47-49; Lit. 3)
2. Allgemeine Vererbung und Behandlung der
Hämophilie B
2.1 Vererbung von Hämophilie B
Hämophilie B wird ebenso wie Hämophilie A durch den X-chromosomal-
rezessiven Erbgang vererbt. Das heisst, dass das defekte Gen, das das Fehlen
bzw. den Mangel an Faktor IX ( bei Hämophilie A an Faktor VIII ) verursacht,
auf dem X-Chromosom liegt. Wie bei allen rezessiven Erbgängen sind somit
alle Männer, die das defekte Gen besitzen, und alle die Frauen hämophil,
die homozygot bezüglich des defekten Gens sind. Homozygot bedeutet hier,
dass beide X-Chromosome von der Krankheit betroffen sind. Eine Frau, bei der
nur auf einem X-Chromosom das defekte Gen liegt, wird Konduktorin für Hämophilie
genannt. Sie kann das defekte Gen an ihre Nachkommen weitergeben, bei ihr selbst
tritt die Hämophilie aber nicht auf, weil das andere, gesunde X-Chromosom
ausreicht, damit genügend Blutgerinnungsstoffe produziert werden.
Aus der Ehe eines Hämophilen mit einer genotypisch gesunden Frau sind
alle Söhne genotypisch gesund und alle Töchter Konduktorinnen ( Abb.1
). Das heisst, dass die Töchter phänotypisch alle gesund sind, die
Anlage aber auf einem X-Chromosom liegt. Die Hämophilie tritt also als
zu behandelnde Krankheit frühestens wieder in der übernächsten
Generation auf.

Abb.
1 : Vererbung bei einem Hämophilen und einer gesunden Frau
Von den Kindern aus der Ehe einer Konduktorin und eines genotypisch gesunden
Mannes sind der Wahrscheinlichkeit nach die Hälfte der Söhne genotypisch
gesund, die andere Hälfte ist hämophil. 50% der Töchter sind
genotypisch gesund und 50% Konduktorinnen ( Abb. 2 ). Statistisch gesehen tritt
also bei _ der Kinder aus solch einer Ehe die Hämophilie nach aussen in
Erscheinung.

Abb. 2 : Vererbung bei einem gesunden Mann und einer Konduktorin
Aus der Ehe zwischen einem Hämophilen und einer Konduktorin würden
50% gesunde und 50% hämophile Söhne hervorgehen. Die Hälfte der
Töchter wäre Konduktorin, die andere Hälfte aufgrund der homozygoten
Krankheitsanlage hämophil ( Abb. 3 ). Hier würde also auch eine Hämophilie
bei Frauen auftreten, was aber sehr selten vorkommt. Statistisch gesehen wäre
die Hälfte der Kinder hämophil.

Abb.
3 : Vererbung bei einem Hämophilen und einer Konduktorin
Das defekte Gen im X-Chromosom wird ohne jegliche Veränderung weitervererbt,
so dass die Schwere der Hämophilie im Laufe der Generationen nicht abnimmt.
(nach:
Lit. 1, S. 52/53; Lit. 2, S. 10/11; Lit. 4, S. 395-397)
2.2 Ziele der Behandlung
Durch die Behandlung soll dem Körper der fehlende bzw. nicht ausreichend
vorhandene Faktor IX zugeführt werden. Dies geschieht durch die intravenöse
Substitution, die folgende Ziele hat:
1. Frühbehandlung bei akuter Blutung ( Blutung wird so schnell wie möglich
erkannt und dann wird gespritzt, um die Blutung zu stoppen und Folgeschäden
zu vermeiden)
2. Verhütung von Blutungen durch Dauerbehandlung
3. Erhaltung und/oder Wiederherstellung von Gelenkfunktionen ( vor allem bei
älteren Hämophilen )
4. Integration des Hämophilen in ein normales soziales Leben
(nach: Lit. 2, S. 17; Lit. 5, S. 66)
2.3 Substitutionsbehandlung
Bei der Substitutionsbehandlung wird ein Faktor IX-Konzentrat intravenös
gespritzt. Faktor IX ist schon gentechnologisch herstellbar und wird in den
USA auch gespritzt. Hier in Deutschland jedoch wird das gentechnologisch hergestellte
Faktor IX-Konzentrat noch in klinischen Studien auf Wirksamkeit und Verträglichkeit
hin getestet. Bis Ende dieses Jahres wird es wahrscheinlich aber auch hier zugelassen
werden. Zur Zeit wird das Konzentrat fast ausschliesslich aus menschlichem Blutplasma
gewonnen.
Je nach Schweregrad der Hämophilie und Alter des Patienten wird eine unterschiedliche
Art der Behandlung durchgeführt. Zum einen gibt es die Dauerbehandlung,
bei der alle 72 Stunden bzw. 3x pro Woche gespritzt wird, weil das Faktor IX-Konzentrat
eine Halbwertzeit von ca. 16 Stunden hat, nach denen der Faktor nur noch die
Hälfte seiner ursprünglich substituierten Aktivität besitzt.
Zum anderen gibt es die Behandlung nach Bedarf, bei der bei einer akuten Blutung
oder z.B. vor einer Operation o.ä. gespritzt wird. Die Höhe der zu
spritzenden Einheiten hängt sowohl vom Körpergewicht als auch vom
Alter des Patienten ab. Bis zum Ende der Wachstumsphase steigt die Dosis mit
dem Körpergewicht, danach sinkt sie wieder, weil nun die Blutungsgefahr
geringer wird. Im Alter von 11/12 Jahren ist diese meistens am höchsten.
2.3.1 Behandlung im Kindes- und Jugendalter
Bei schwerer Hämophilie wird die Dauerbehandlung durchgeführt, um
ein recht normales Leben des Hämophilen zu erreichen. Beginn der Behandlung
ist meistens gegen Ende des ersten Lebensjahres. Beendigt wird die Dauerbehandlung
in der Regel nach Ende der Wachstumsphase, da danach die Blutungsgefahr abnimmt.
Durchschnittlich erhält der Hämophile eine Dosis von 20-30 Einheiten
(E) / kg Körpergewicht. Eine Einheit enthält soviel Faktor IX wie
ein Milliliter Normalplasma. Normalerweise müsste alle 72 Stunden gespritzt
werden, da dies aber sehr schwierig ist, wird an drei festen Tagen in der Woche
gespritzt. Zusätzlich zur Dauerbehandlung muss auch bei Bedarf gespritzt
werden, z.B. bei akuten Blutungen oder vor und nach operativen Eingriffen. Bei
Gelenk- und Muskelblutungen liegt die mittlere Initialdosis bei 30-40 E / kg
Körpergewicht, bei lebensbedrohlichen Blutungen wie z.B. der Hirnblutung
liegt die Initialdosis sogar bei 50-70 E / kg Körpergewicht. Diese Behandlung
wird je nach Schwere der Blutung bis zu vier Tage lang durchgeführt, bei
Operationen bis zum Abschluss der Wundverheilung. Dabei sollte in Abständen
von 12-24 Stunden gespritzt werden, um den Faktor IX-Plasmaspiegel konstant
zu halten.
Bei einer mittelschweren oder leichten Hämophilie wird normalerweise nur
bei Bedarf gespritzt. Hier beträgt die Initialdosis bei Gelenk- und Muskelblutungen
20-40 E / kg Körpergewicht, bei lebensbedrohlichen Blutungen ebenfalls
50-70 E / kg Körpergewicht. Die Behandlungsdauer ist die gleich wie bei
schwerer Hämophilie. Eine Dauerbehandlung wird nur durchgeführt, wenn
die Blutungshäufigkeit hoch ist.
(nach: Lit. 5, S.67)
2.3.2 Behandlung im Erwachsenenalter
Die Behandlung der schweren Hämophilie im Erwachsenenalter hängt vom
einzelnen Patienten ab. Die einen erhalten eine Behandlung nach Bedarf, die
anderen eine Dauerbehandlung. Die Behandlung bei Bedarf erfolgt genauso wie
die bei mittelschwerer und leichter Hämophilie im Kindesalter. Die Dauerbehandlung
wird bei Rezidivblutungen, d.h. bei wiederkehrenden Blutungen, mit der Gefahr
irreversibler Schäden und bei besonderer körperlicher und psychischer
Belastung durchgeführt. Bei Rehabilitation einer Behinderung durch Blutungen
beträgt die durchschnittliche Dosis 20-30 E / kg Körpergewicht bei
mindestens dreimaligem Spritzen in der Woche.
Die mittelschwere und leichte Hämophilie im Erwachsenenalter wird in der
Regel genauso behandelt wie die im Kindesalter, normalerweise mit Behandlung
bei Bedarf, in Ausnahmen mit Dauerbehandlung.
(nach: Lit. 5, S. 67/68)
Vorbeugen ist besser als nachbehandeln, auch wenn die Substitutionsbehandlung,
wie schon einmal erwähnt, sehr teuer ist. 1000 Einheiten kosten ca. 1000,-
DM und bei einer schweren Verlaufsform der Hämophilie mit Dauerbehandlung
und häufigen Blutungen kann man sich vorstellen, wie teuer das wird. Doch
unbehandelte Gelenkblutungen führen unweigerlich zur Verkalkung und zum
Verkapseln der Gelenke, so dass vielen Hämophilen der Rollstuhl oder eine
Gehbehinderung nicht erspart bliebe. Die Folgen unzureichend behandelter Hämophilie
sieht man noch an vielen älteren Hämophilen, deren Rehabilitation
heute viel mehr kostet, als wenn man damals hätte vorbeugen können.
2.3.3 Behandlung von Konduktorinnen
Auch Konduktorinnen für Hämophilie müssen vor und nach grösseren
Operationen behandelt werden, wenn in der Familie eine schwerer Verlaufsform
der Hämophilie vorliegt. Denn dann ist der für eine Operation notwendige
Plasmaspiegel an Faktor IX zu gering und muss mit der Substitutionsbehandlung
erhöht werden. Es wird das gleiche Faktor IX-Konzentrat gespritzt wie bei
einem Hämophilen mit Hämophilie B. Bis zum Abschluss der Wundverheilung
wird morgens und abends gespritzt, um den Faktor IX-Plasmaspiegel konstant zu
halten. Dazu werden in gewissen Abständen Gerinnungsanalysen gemacht, um
festzustellen, ob die Dosis erhöht werden muss oder erniedrigt werden kann
(siehe dazu auch Bilder 9 und 10).
2.4 Mögliche Nebenwirkungen und Risiken
der Substitutionsbehandlung
Ein Risiko, das durch die Virusinaktivierungsverfahren seit ungefähr 1985
aber fast ausgeschlossen ist, ist die Übertragung von Viren durch eine Infektion
eines Blutspenders. Vor allem die Hepatitisviren wurden damals auf viele Hämophile
übertragen, und in der Zeit von 1983-1985 infizierten sich etwa 2000 Hämophile
aus den alten Bundesländern mit HIV.
Eine immunologische Reaktion des Körpers auf Eiweissbestandteile des Faktorenkonzentrates
kann eine mögliche Nebenwirkung der Substitutionsbehandlung sein.
Eine schwerwiegende, aber seltene Komplikation ist die Hemmkörper-Hämophilie
( ca. 20-30% bei Patienten mit schwerer Hämophilie A, 1-2% bei schwerer
Hämophilie B ). Bei dieser Art von Hämophilie bilden sich Antikörper,
die Faktor VIII bzw. IX inaktivieren, so dass trotz Substitutionsbehandlung
keine vollständige Blutgerinnung stattfinden kann. Die Behandlung ist sehr
aufwendig und teuer und bedeutet eine grosse psychische und physische Belastung
für den Patienten und seine Familie, da zweimal täglich über
eine lange Zeit hinweg eine hohe Dosis an Faktorenkonzentrat gespritzt werden
muss und der Erfolg dieser Therapie nicht gesichert ist.
(nach: Lit. 1, S.
71-73; Lit. 2, S. 21/22; Lit. 6, S. 46/47)
3. Vererbung und Behandlung von Hämophilie
B am Beispiel des Hämophilen Philipp
3.1 Entstehung und Vererbung - von der
sporadischen zur familiären Hämophilie
Nachdem bei Philipp herausgefunden worden war, dass er Hämophilie B hat,
begann die Suche nach den Ursachen. Nach den Gesetzen der Vererbung musste er
die Krankheit eigentlich von der Mutter haben. Da aber auch eine Neumutation
möglich gewesen wäre, wurde das Blut von beiden Elternteilen auf Veränderungen
in den Genen hin untersucht. Bei der Mutter wurde dann das gleiche defekte Gen
in einem X-Chromosom gefunden wie bei Philipp, so dass daraufhin sowohl das
Blut von Philipps Schwester als auch das von den Grosseltern, Tanten und deren
Kindern mütterlicherseits untersucht wurde. Bei seiner Schwester fand man
ebenfalls das defekte Gen, bei allen Verwandten mütterlicherseits aber
nichts. Vor allem bei den Eltern von Philipps Mutter wurde natürlich gründlich
nach der Krankheitsanlage gesucht. Da aber nichts gefunden wurde, musste man
davon ausgehen, dass eine Mutation entweder in den Eizellen der Grossmutter
oder in den Samenzellen des Grossvaters stattgefunden haben muss. Danach wurde
das defekte Gen dann ganz normal nach dem X-chromosomal-rezessiven Erbgang weitervererbt
( Abb. 4 ). Das Erstauftreten der Hämophilie bei Philipp wird als sogenannte
"sporadische Hämophilie" bezeichnet. Eine in den nächsten
Generationen möglicherweise auftretende Hämophilie heisst dann "familiäre
Hämophilie".

Abb.
4: Erbgang der Hämophilie bis zu Philipp

3.2 Erkennung und Erstbehandlung der Hämophilie
B bei Philipp
1986 wurde Philipp geboren, und in den ersten Monaten fiel nicht Ungewöhnliches
an ihm auf. Doch dann bekam er ohne ersichtlichen Grund blaue Flecken. Da diese
mit der Zeit auch nicht weggingen, sondern im Gegenteil noch grösser wurden,
suchten Philipps Eltern den Kinderarzt auf, der aber auch nichts feststellen
konnte. Den ersten grossen blauen Fleck hatte Philipp auf der Wange, so dass
der Arzt vermutete, es könne mit den Ohren zusammenhängen. Doch dieser
Verdacht stellte sich als nichtig heraus. Die nächste Vermutung war ein
Vitamin K - Mangel. Vitamin K ist zur Blutgerinnung notwendig, und bei einem
Mangel treten gehäuft blaue Flecken auf. Bei einem gestillten Säugling
kommt dieser Mangel gelegentlich vor, und so lag diese Vermutung sehr nahe.
Philipp bekam Vitamin K gespritzt, und man war überzeugt, das Auftreten
der blauen Flecken nun behoben zu haben. Als Philipp jedoch wieder blaue Flecken
bekam, wurde er in die Kinderabteilung der Neuwieder Klinik eingewiesen. Dort
wurde festgestellt, dass kein Vitamin K - Mangel bestand. Ein Arzt kam dann
auf die Idee, eine Gerinnungsuntersuchung von Philipps Blut durchführen
zu lassen. Noch am selben Tag brachten Philipps Eltern persönlich das Blut
nach Bonn ins "Institut für experimentelle Hämatologie und Bluttransfusionswesen".
Als die Eltern am nächsten Morgen ins Krankenhaus kamen und sahen, dass
das Bettchen von Philipp weich ausgepolstert und alle härteren Spielsachen
herausgenommen worden waren, war ihnen sofort klar, dass ihr Sohn hämophil
ist; Philipp war inzwischen vier Monate alt. In Bonn hatte man festgestellt,
dass er an einer schweren Hämophilie B leidet. Das bedeutet, dass ihm der
für die Blutgerinnung notwendige Faktor IX fast ganz fehlt. Aus diesem
Grund bekam er in der Hämophilie-Abteilung des Bonner Institutes eine Spritze
mit Faktor IX-Konzentrat. Da die Säuglingszeit normalerweise ohne Blutungen
verläuft, bekam Philipp den Rest seines ersten Lebensjahres keine Spritze
mehr. Es wurde natürlich besonders darauf geachtet, dass er sich nirgendwo
stossen oder verletzen konnte.
3.3 Ambulante Substitutionsbehandlung
Als Philipp dann anfing zu krabbeln, versuchte man die Auswirkungen von Stössen
zunächst einmal zu mildern, indem man zum einen die Kleidung an Knie- und
Ellebogengelenken auspolsterte und zum anderen scharfe Kanten im Haus vermied.
Mit zunehmendem Alter wurde Philipp natürlich immer mobiler, und die blauen
Flecken häuften sich. So entschloss man sich schliesslich, als Philipp
ein Jahr alt war, mit der Dauerbehandlung zu beginnen.
Zunächst wurde in der Hämophilie-Abteilung des Bonner Institutes
ein Behandlungsplan erstellt, wie oft Philipp gespritzt werden sollte und wieviel
Einheiten er erhalten sollte. Anfangs wurde in Bonn gespritzt, dann übernahm
der Kinderarzt der Familie die Behandlung. Dies war keine leichte Aufgabe, denn
da die Hämophilie im Studium nur kurz angeschnitten wird, musste dieser
Arzt sich erst einmal informieren und in dieses Thema einarbeiten. Ausserdem
war es nicht leicht, ein einjähriges Kleinkind dreimal in der Woche zu
spritzen, dazu noch intravenös. Da bei einem Kleinkind die Venen noch sehr
schwer zu treffen sind, wurde Philipp in die Kopfvene gespritzt. So konnte man
ihn auch besser festhalten, als wenn er z.B. in eine der Armvenen gespritzt
worden wäre.
Pro Substitution bekam Philipp 250 Einheiten gespritzt. Bis zu seinem vierten
Lebensjahr fuhren seine Eltern also dreimal in der Woche mit ihm zum Kinderarzt,
bei grösseren Blutungen zum Bonner Institut, da der Kinderarzt nicht das
Fachwissen hatte, um entscheiden zu können, wie schwerwiegend eine Blutung
war und wieviel Einheiten gespritzt werden mussten. Natürlich entwickelten
auch die Eltern allmählich ein Gefühl dafür, wie schwer eine
Blutung war, so dass sie sich dazu entschlossen, die Heimselbstbehandlung zu
erlernen.
3.4 Heimselbstbehandlung
Als Philipp vier Jahre alt war, entschlossen sich seine Eltern zur Erlernung
der Heimselbstbehandlung, um eine gewisse Unabhängigkeit von den ?rzten
zu bekommen und im Falle einer akuten Blutung schneller reagieren zu können.
Zuerst lernte die Mutter, etwas später der Vater, die Substitution selbst
durchzuführen. Dazu fuhr sie ein- bis zweimal pro Woche nach Bonn. In der
Hämophilie-Abteilung des Institutes bekam sie dann erklärt und gezeigt,
wie man Blutungen rechtzeitig erkennt und wie man das Faktor IX-Konzentrat dosiert,
auflöst und injiziert. In Rücksprache mit dem Hämophilie-Zentrum
konnte Philipp ab diesem Zeitpunkt zuhause behandelt werden (siehe Bild 3) und
musste nur noch bei schwer einzuschätzenden Blutungen und zur allgemeinen
vierteljährlichen Untersuchung nach Bonn.
Am Anfang wurde er immer noch in die Kopfvene gespritzt, später kamen
dann die Armvenen hinzu. Heute wird er nur noch abwechselnd in die Armvenen
gespritzt, manchmal auch in die Hand, denn es kann schon einmal vorkommen, dass
die Vene durchstochen oder nicht getroffen wird. Dann wird die Substitution
an dieser Vene abgebrochen und an einer anderen fortgesetzt. So kann es passieren,
dass ziemlich oft gestochen werden muss, und am Ende Eltern und Kind mit den
Nerven fertig sind.
Mit zunehmendem Alter bekam Philipp natürlich auch mehr Einheiten gespritzt.
Als Philipp vier Jahre alt war, waren es 250 Einheiten, heute sind es 600 Einheiten
pro Substitution. Bei einer akuten Blutung erhält er heute 3600 Einheiten
pro Tag, 1800 Einheiten morgens und 1800 Einheiten abends, je nach Schwere der
Blutung bis zu 14 Tagen lang.
Philipp ist jetzt fast elf und kann sich seit ca. 1-2 Jahren selbst spritzen
(siehe Bild 4). Er darf die Substitution zur Zeit natürlich nur unter Aufsicht
des Arztes oder eines Elternteils durchführen, aber wenn er noch etwas
älter ist und selbst die Verantwortung für sein Handeln übernehmen
kann, hat er so eine Unabhängigkeit von den Eltern, wenn er z.B. auf Klassenfahrt
geht. Wegen dieser Unabhängigkeit und Selbständigkeit befürworten
es die ?rzte auch , wenn ein hämophiler Junge schon früh lernt, sich
selbst zu spritzen.
3.5 Gefahr durch die Behandlung
Nachdem zwischen 1983 und 1985 viele Hämophile mit dem HI-Virus infiziert
wurden, war es seit 1985 für alle Hersteller von Gerinnungspräparaten
gesetzlich vorgeschrieben, Virusinaktivierungsverfahren durchzuführen.
Seitdem galten die Präparate als sicher.
Anfang 1990 wurde bekannt, dass sich bei einem Patienten mit Hämophilie
B HIV-Antikörper gebildet hatten. Da dieser in den letzten Jahren nur mit
dem PPSB-Konzentrat der Firma Biotest behandelt worden war, musste in diesem
Konzentrat, in der Charge 1601089, der HI-Virus gewesen sein. Man versuchte
nun, alle mit dieser Charge behandelten Hämophilie B-Patienten zu warnen.
Philipp gehörte auch zu diesen Patienten und wurde nachweislich drei Monate
mit HIV-positivem Material gespritzt. Daraufhin musste er ein halbes Jahr lang
alle 6 Wochen ins Bonner Institut zum HIV-Antikörpertest. Doch Philipp
hatte grosses Glück und wurde nicht infiziert. Von 25 Kindern, die mit
dieser Charge behandelt wurden, wurden 10 HIV-positiv. Warum die anderen sich
nicht infiziert haben , ist unklar. Man vermutet aber, dass es zum einen mit
den Genen und zum anderen mit dem Immunsystem, wahrscheinlich aber auch noch
mit vielen anderen, unbekannten Faktoren, zusammenhängt.
(nach: Lit.
7, S. 34-36)
4. Zukunftsaussichten
4.1 Vererbungsmöglichkeiten der Hämophilie
bei Philipp
Wenn Philipp einmal heiratet, wird er sich die Frage stellen : Werden meine
Kinder gesund sein ? Bei ihm ist die Situation, wenn er eine gesunde Frau heiratet,
einfacher als z.B. bei seiner Schwester. Alle seine Söhne werden gesund
sein, alle seine Töchter Konduktorinnen (siehe Abb. 1). Er wird also bei
seinen Kindern keine Hämophilie zu behandeln haben. Diese tritt, wenn er
Töchter bekommt, frühestens bei seinen Enkeln wieder auf. Nur wenn
er eine Konduktorin heiraten würde, würde die Hämophilie mit
50%-iger Wahrscheinlichkeit auftreten; diesmal könnte auch eine Tochter
betroffen sein (siehe Abb. 2).

4.2 Neue Behandlungs- und Heilungsmöglichkeiten
4.2.1 Gentechnologisch hergestellter Faktor
IX
Der gentechnologisch hergestellte Faktor IX wird die nächste Behandlungsmöglichkeit
sein, da die Herstellung schon gelungen ist. Dabei wird das Gen, das für
die Faktor IX-Produktion verantwortlich ist, in Hamsterovar- oder Hamsternierenzellen
eingeschleust, die die Erbinformationen für die Produktion in ihre DNS
einbauen und dann den Faktor IX bilden. Zur Zeit wird in klinischen Studien
noch die Verträglichkeit und Wirksamkeit dieser Präparate getestet.
Aber voraussichtlich wird schon gegen Ende dieses Jahres auch der gentechnologisch
hergestellte Faktor IX zugelassen werden, so dass dann alle Hämophilie
B-Patienten diese Möglichkeit nutzen können.
4.2.2 Lebertransplantationen
Eine Lebertransplantation heilt die Hämophilie phänotypisch, da die
Leber die Bildungsstätte der Gerinnungsfaktoren VIII und IX ist. Aufgrund
der Tatsache, dass eine Lebertransplantation nicht risikolos ist, wird sie nur
bei schweren Leberschäden durchgeführt und nicht, um nur die Hämophilie
zu heilen. Zwischen 1985 und 1991 wurden bei 11 Patienten mit unterschiedlicher
Hämophilie und unterschiedlichen Schweregraden der Hämophilie Lebertransplantationen
durchgeführt. Vier Patienten verstarben entweder an der Operationsfolge
oder an Infektionen, die anderen sind phänotypisch geheilt.
(nach: Lit. 8, S. 70/71)
4.2.3 Gentherapie
Bei der Gentherapie versucht man, in die Zellen eines Hämophilen ein gesundes
Faktor VIII- bzw. IX-Gen einzusetzen. Diese Zellen sollen dann soviel Faktor
VIII bzw. IX produzieren, dass man zumindest zeitweilig auf die Substitution
verzichten kann. Die Einpflanzung von gesunden Faktor VIII- bzw. IX-Genen in
verschiedene Zellen ist schon gelungen, doch nach einiger Zeit hörten diese
Zellen mit der Produktion wieder auf. Es müssen also noch viele Versuche
gemacht werden, bevor die Gentherapie in klinischen Studien getestet werden
kann, und es wird sicherlich noch viel Zeit vergehen, bis die Hämophilie
damit geheilt oder zumindest abgeschwächt werden kann.
(nach: Lit. 9, S. 16)
7. Literaturverzeichnis
1.) Kurme, Anatol: Ich bin der Martin: Eine Hämophilie-Fibel für
Kinder und Eltern. Hamburg: MEDI-A-DERM Verlagsgesellschaft mbH für medizinische
Publizistik, 1994
2.) Maurer, Maximilian H.: Hämophilie, aus der Reihe: Kommunikation zwischen
Partnern: Heft 26. 4.Aufl. 1984
3.) Informationsblatt der IGH (Interessengemeinschaft Haemophiler e.V. Bonn)
4.) Linder, Hermann: Biologie. 20.Aufl. Hannover: Schroedel Schulbuchverlag
GmbH, 1989
5.) Arbeitsgruppe "Hämophiliebehandlung" der Gesellschaft für
Thrombose-und Hämostaseforschung (GHT) und ?rztlicher Beirat der Deutschen
Hämophiliegesellschaft (DHG): "Consensus-Empfehlungen zur Hämophiliebehandlung
in Deutschland", in: Hämophilie-Blätter, 3/1993, 27. Jahrgang,
S. 66-69
6.) Effenberger, W. und E. Schleithoff: "Hämophilie und Hemmkörper
- Ein Überblick", in: Mitgliederzeitschrift der IGH, 7/96, S. 46-51
7.) Esdar, H. und A. Kurme: "( HIV-Infektionen bei Hämophilie-B-Patienten
- Unglück oder Versagen ? - Eine Chronologie", in: Hämophilie-Blätter,
1/19990, 24. Jahrgang, S. 34-37
8.) Scharrer, I.: "Lichtblicke bei der Behandlung von Hämophilie
und HIV-Infektion", in: Hämophilie-Blätter, 2/1991, 25. Jahrgang,
S.70/71
9.) Schlenkrich, U. und W. Voerkel: "Herausforderungen von heute sind
Siege von morgen", vom: XX. Internationalen Kongress der "World Federation
of Hemophilia", in: Hämophilie-Blätter, 1/1993, 27. Jahrgang,
S. 14-16