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Faktor-VIII- und Faktor- IX-Konzentrate: Warum kann es immer wieder zu Lieferengpässen kommen?
Rottenburg, den 04. April 2011

Faktor-VIII- und Faktor-IX-Konzentrate: Warum kann es immer wieder zu Lieferengpässen kommen?

Eine Stellungnahme aus der Sicht eines Herstellers

Gerinnungsfaktoren zur Behandlung der Hämophilie A und B werden heute entweder aus menschlichem Blutplasma isoliert oder gentechnisch hergestellt. Unabhängig davon, welcher dieser beiden Wege beschritten wird, ist es das Ziel, hochwirksame Gerinnungsfaktor-Konzentrate in höchster Reinheit mit hervorragender Verträglichkeit und Sicherheit den Patienten anzubieten. Dieses Ziel kann nur unter Einsatz modernster Techniken sowie durch Einhaltung der höchsten Sicherheitsstandards und Qualitätskriterien erreicht werden. Die Anforderungen an ein Gerinnungskonzentrat und dessen Herstellung sind in nationalen und internationalen Richtlinien genauestens festgelegt. Darüber hinaus wird ständig an Innovationen, z. B. der Einführung der PCR (siehe Glossar) für Plasmapräparate, an neuen Virusinaktivierungsmethoden oder an völlig neuen Generationen von Produkten gearbeitet, die Sicherheits- und Qualitätsstandards der Präparate noch weiter verbessern sollen. Eine führende Rolle wird hier von den Herstellern der Gerinnungskonzentrate übernommen, die den Stand von Wissenschaft und Technik maßgebend mitbestimmen.

Seit den 60ern Jahren wird die Heimselbstbehandlung und die Prophylaxe in den skandinavischen Ländern und Deutschland mit Erfolg angewendet. Die Akzeptanz dieser Therapieformen durch andere Länder hat in den letzten Jahren den Bedarf an sicheren und hochgereinigten Konzentraten beständig ansteigen lassen. Dies betrifft vor allem die seit 1993 verfügbaren gentechnisch hergestellten Konzentrate, die z. B. in den USA derzeit von etwa 76% der Patienten verwendet werden. In Irland werden nur noch rekombinante Konzentrate eingesetzt und in Großbritannien alle Patienten unter 16 Jahren damit behandelt. In Dänemark wurde bereits vor Jahren entschieden, bis zur Jahrtausendwende alle Patienten nur noch mit rekombinanten Konzentraten zu behandeln.
Zukünftig ist durch die Etablierung der Hämophilie-Therapie in den aufstrebenden Entwicklungsländern mit einem weltweit weiter zunehmenden Bedarf zu rechnen. Selbstverständlich tragen die Hersteller dieser Tatsache durch Ausweitung der Produktionskapazitäten Rechnung. Wie kann es dennoch immer wieder zu Versorgungsengpässen oder gar kompletten Lieferabrissen kommen?

Produktionskapazität

Grundvoraussetzung zur Herstellung von Faktorenkonzentraten ist natürlich das Vorhandensein einer Produktionsanlage sowie ausreichend vorhandene Ausgangsmaterialien.

Jede Produktion erfordert die Errichtung einer oder mehrerer Produktionsanlagen. Da zwischen Planung und letztlich der Aufnahme der Produktion Jahre vergehen, müssen die Hersteller das Kunststück vollbringen, z. B. den Bedarf an Faktor VIII in 10 Jahren "vorherzusagen". Einmal beschlossen und geplant geht der Bau einer Anlage noch relativ schnell voran. Testung und die sgn. Validierung (siehe Glossar) aller Prozesse und letztlich die Abnahme durch die Behörden sind allerdings außerordentlich zeit- und kostenintensiv, so dass es u. U. nach dem Bau nochmals vier Jahre oder länger dauern kann, bis eine derartige Anlage tatsächlich Gerinnungsfaktoren für Patienten produzieren darf. Selbst dann kann es vorkommen, dass eine Anlage oder Teile davon z. B. nur für die USA herstellen darf, weil die Zulassung für Europa noch fehlt.

Es ist selbstverständlich, dass die Anlage selbst sowie die Herstellungs- und Qualitätskontrollprozesse höchsten Qualitätskriterien genügen müssen (Good Manufacturing Practice, GMP). Wie in den letzten Jahren mehrfach bekannt geworden, können z. T. nur kleine Abweichungen von diesen Kriterien zur Schließung von Anlagen oder zur Verzögerung der Inbetriebnahme neuer Anlagen führen. Vor einer Wiedereröffnung müssen häufig aufwändige bauliche Maßnahmen oder Änderungen im Produktionsprozess durchgeführt werden, die wiederum validiert und von den Behörden freigegeben werden müssen. Selbstverständlich kann die Produktionskapazität einer bestehenden Anlage auch durch Anbauten ausgeweitet werden, aber auch hier gelten die oben beschriebenen Anforderungen, so dass in der Regel mindestens zwei Jahre hierfür anzusetzen sind.

Zudem muss jede Produktionsstätte selbstverständlich in regelmäßigen Abständen gewartet werden, was ebenfalls mit einer kurzfristigen Unterbrechung der Produktion einhergehen muss. Jede Anlage wird von den Behörden regelmäßig inspiziert. Kommt es hierbei zu Beanstandungen, die Nach- bzw. Ausbesserungen erforderlich machen, muss der Betrieb wiederum auf unbestimmte Zeit unterbrochen werden.

Nur durch diese zeitintensive, hochkomplexe Vorgehensweise kann der heutige, für uns selbstverständliche, hohe Sicherheitsstandard der Präparate gewährleistet werden. Die Erfüllung der hohen Anforderungen an Herstellungs- und Qualitätskontrollprozesse werden allerdings mit einem Verlust an Flexibilität erkauft. Dies führt oft dazu, dass auf einen überraschend veränderten Bedarf nur zeitverzögert reagiert werden kann.

Produktion

Die gleichbleibend hohe Qualität der Gerinnungsfaktoren wird durch ständige Überwachung des Herstellungsprozesses und durch Laboruntersuchungen des Endprodukts sichergestellt. Jede Charge wird vom Hersteller nach genau definierten Richtlinien (Spezifikationen) getestet. Werden bereits im Verlauf des Herstellprozesses Abweichungen von der gewünschten Qualität festgestellt, so müssen diese überprüft, korrigiert und dokumentiert werden. Liegt die Abweichung nicht in einem akzeptablen Bereich, muss die Charge verworfen werden. Nach Abfüllen und Gefriertrocknen erfolgt dann die Endprodukt-Testung. Diese interne Freigabe dauert mindestens vier Wochen.

Da es sich sowohl bei den rekombinanten als auch den plasmatischen Konzentraten um biologische Produkte handelt, ist der Herstellprozess gewissen natürlichen Schwankungen unterlegen. Auf das Endprodukt hat dies keinerlei Auswirkungen, weil alle Testergebnisse im Rahmen bestimmter Toleranzbereiche liegen müssen . Liegt allerdings ein Testergebnis leicht außerhalb des festgelegten Bereichs, so muss der Test wiederholt werden. Damit ergibt sich auf jeden Fall eine verzögerte interne Freigabe der Charge, in seltenen, aber nicht auszuschließenden Fällen, kann die Charge gar nicht freigegeben werden. Natürlich haben alle Hersteller immer mehrere Chargen gleichzeitig in der Produktion, somit also eine gewisse Reserve. Aber trotzdem kann es im ungünstigen Fall zu einer leichten und meist vorübergehenden Knappheit eines bestimmten Produkts bzw. einer Konzentratstärke (Potency) kommen.

Plasmatische Konzentrate

Der Herstellung der plasmatischen Faktoren geht die zeitaufwändige Gewinnung von Plasma voraus. Plasma ist ein teurer und wertvoller Rohstoff und muss höchsten Qualitätsanforderungen genügen. Deshalb ist das Sammeln und Verarbeiten von Plasma nur in hochentwickelten Ländern mit entsprechender Infrastruktur möglich und wünschenswert. Es ist selbstverständlich, dass die Spender gesund sein müssen und auch keiner Risikogruppe angehören dürfen (dazu zählen auch seit kurzem Personen, die sich zwischen 1990 und 1996 insgesamt mehr als 6 Monate im Vereinigten Königreich aufgehalten haben). Die Plasmaspenden selbst werden auf Antikörper gegen HIV-1/2, HCV sowie auf HBsAg und ALT getestet, seit kurzer Zeit auch mit Hilfe der PCR auf HCV sowie von einigen Herstellern auf HBV, HIV, HAV und Parvo-Virus. Die Spenden von Erstspendern werden auf jeden Fall dann verworfen, wenn der Spender nicht innerhalb eines halben Jahres erneut spendet Jede Plasmaspende wird dann aus Sicherheitsgründen zwei Monate gelagert (Quarantäne). Wenn während dieser Zeit kein positiver Befund für den jeweiligen Spender eingeht, werden die Spenden für die Produktion freigegeben. Von der Gewinnung der Plasmaspende bis zur deren Verarbeitung in einem Plasmapool vergehen so etwa zwölf Monate. Dies zeigt deutlich, wie weit Hersteller in die Zukunft planen müssen, um eine lückenlose Produktion aufrecht erhalten zu können. Obwohl bis dato eher selten, kann auch hier ein plötzliches Ereignis zu einer akuten Plasmaknappheit führen. Als Beispiel mag England gelten, wo nach Auftreten der Variante von CJK im Jahr 1996 im Land gewonnenes Plasma nicht mehr verarbeitet werden darf, was zu einer drastisch gestiegenen Nachfrage nach rekombinanten Produkten führte, die nur schwer zu bewältigen war.

Im Gegensatz zu den rekombinanten Faktoren müssen die Chargen plasmatischer Produkte von der jeweils zuständigen nationalen Behörde freigegeben werden. In Deutschland ist für diese Chargenfreigabe das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zuständig, das laut Gesetz hierfür 2 Monate Zeit hat. In der Regel werden allerdings nur 2-4 Wochen für eine Chargenfreigabe benötigt. Das PEI prüft die ordnungsgemäße Dokumentation der Herstellung und der Untersuchungsergebnisse und führt selbst Laboruntersuchungen zur Qualitätssicherung durch. Erst nach der Freigabe durch die Behörden kann eine Charge an Patienten weitergegeben werden.

Diese Aufzählung macht sehr gut die hochkomplexe Verzahnung von Plasmaspende, Produktion, Qualitätskontrolle und Freigabe durch die Behörden deutlich und zeigt weiterhin, dass es ungeachtet sorgfältiger Planung immer wieder einmal zu Verzögerungen kommen kann.

Manchmal müssen auch Chargen vom Markt zurück genommen werden. Dies war in den letzten Jahren z. B. dann der Fall, wenn ein Spender nachträglich in eine CJK-Risikogruppe eingeordnet werden musste (z. B. als Empfänger eines Hirnhauttransplantats). Auch derartige Ereignisse reißen natürlich Lücken in die Versorgung, die ausgeglichen werden müssen.

Rekombinante Konzentrate

Der Bedarf an rekombinanten Konzentraten ist seit ihrer Markteinführung sehr stark gestiegen. Im Gegensatz zu plasmatischen Faktoren ist die Herstellung rekombinanter Produkte nicht von einem einzelnen Rohstoff (z. B. Plasma) abhängig. Begrenzender Faktor ist hier in erster Linie die Kapazität der Produktionsstätten. Diese lässt sich, wie beschrieben, nur unter hohem Zeitaufwand erweitern. Müssen darüber hinaus ganze Anlagen (oder Teile davon) geschlossen werden (meist nach Inspektion durch eine Aufsichtsbehörde) so ist es kurzfristig äußerst schwer, diesen Ausfall zu ersetzen (dies gilt in erster Linie für den betroffenen Hersteller, aber auch für andere Hersteller, die ähnliche Produkte anbieten).

Natürlich gelten auch hier die genannten hohen Qualitätsstandards (GMP).Bei einem gentechnisch hergestellten Faktor VIII werden während Produktion sowie am Endprodukt mehr als 600 verschiedene Testungen vorgenommen, wobei es natürlich zu Abweichungen kommen kann, die dann zu erneuten Testungen und damit verbundenen verzögerten Freigaben führen. Bestätigt sich jedoch eine Abweichung von den festgelegten und vorgeschriebenen Kriterien, steht die Charge nicht mehr in der Versorgungsplanung zur Verfügung.

Schlussfolgerungen

Die außerordentlich hohe Verträglichkeit und Sicherheit moderner Präparate wird durch Verwendung modernster Techniken und Einhaltung höchster Qualitätskriterien erreicht. Die hochkomplexen Abläufe bei der Produktion sowie die Einhaltung der geforderten Richtlinien und Zulassungsvoraussetzungen bedingen allerdings eine gewisse "Reaktionsträgheit". Natürlich verfügt jeder Hersteller über Reserven, mit denen erwartete Schwankungen des Bedarfs, aber auch Ausfälle einzelner Chargen so gut ausgeglichen werden können, dass in der Regel weder Ärzte noch Patienten davon etwas bemerken. Vor allem global arbeitende große Hersteller verfügen über zahllose Möglichkeiten, z. B. durch Umdirigieren von Chargen, für Ausgleich zu sorgen. So ist es ohne weiteres möglich, für Europa vorgesehene Produkte kurzfristig neu zu "verteilen", also Ländern mit höherem Bedarf größere Mengen zu Lasten von Ländern mit geringerem Bedarf zuzuteilen. Dies erfordert "lediglich" eine Änderung der Verpackungsplanung, schlimmstenfalls eine Umverpackung. Zeitaufwändiger, aber ebenfalls möglich, ist auch eine Umverteilung zwischen USA und Europa.

Kommt es allerdings zur Schließung ganzer Anlagen (wie in den letzten Jahren mehrfach geschehen) oder zum (vorübergehenden) Wegfall eines wichtigen, globalen Produkts, so sind die Reserven aller Hersteller sehr schnell erschöpft.

In einer solchen Situation ist es dann besonders wichtig, die sich dadurch ergebende "Versorgungskrise" durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Herstellern und behandelnden Ärzten zu meistern. Nur hierdurch kann zumindest die Grundversorgung gewährleistet werden, vor allem während einer Übergangszeit, die alle Hersteller benötigen, um Produktion und Freigabe der Produkte dieser plötzlich aufgetretenen Situation anzupassen. Nach meist nur kurzer Zeit, bei besonders ernsten Lieferausfällen aber auch eventuell erst nach ein bis zwei Monaten, sind diese Anpassungen vollzogen und die benötigten Mengen an Gerinnungsfaktoren stehen wieder zur Verfügung.

Glossar:

ALT: Alaninaminotransferase, Leberenzym, dessen Erhöhung im Blut eine Lebererkrankung, wie z. B. Hepatitis, anzeigt.
CJK: Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, seltene Gehirnerkrankungen, bei der es zur schwammartigen Durchlöcherung des Gehirns kommt. Die sogenannte neue Variante von CJK (vCJK) ist wahrscheinlich auf den Verzehr von BSE-verseuchtem Rindfleisch zurückzuführen. Diese Erkrankung kommt fast ausschließlich in Großbritannien vor. Obwohl CJK nach bisherigen Erkenntnissen nicht durch Blut- und Plasmaprodukte übertragen werden kann, wird Blut und Plasma aus Großbritannien weltweit nicht zur Herstellung von Gerinnungsfaktoren verwendet.
HAV: Hepatitis-A-Virus
HbsAg: Hepatitis-B-Oberflächenantigen, Bestandteil des Hepatitis-B-Virus, dessen Nachweis im Blut auf eine Hepatitis-B-Infektion hinweist
HBV: Hepatitis-B-Virus
HCV: Hepatitis-C-Virus
HIV: Humanes Immundefizienz-Virus
PCR (engl. Polymerase Chain Reaction, Polymerase-Ketten-Reaktion): eine Labormethode, um Erbanlagen, z. B. von Viren, zu vervielfältigen und damit nachweisbar zu machen.
Validierung: Nachweis, dass jeder einzelne Schritt im Herstellprozess immer wieder zum gleichen und gewünschten Ergebnis führt.

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